BAULICHER BRANDSCHUTZ

Die Organisation der Flucht- und Rettungswege im Betrieb

Text: Dipl.-Ing. Andreas Voigt | Foto (Header): © Milan Noga reco – stock.adobe.com

Im Notfall müssen die betroffenen Gebäudebereiche schnellstmöglich geräumt werden können. Hierfür bedarf es einer guten Planung der Flucht- und Rettungswege. Sie müssen eine gewisse Breite und Länge aufweisen und dürfen nicht von Hindernissen versperrt werden. Über alle Anforderungen gibt die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) sowie die dazugehörige, konkretisierende Technische Regel ASR A2.3 Auskunft.

Auszug aus:

Der Brandschutzbeauftragte
Ausgabe Februar 2021
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Gemäß § 5 der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) muss der Arbeitgeber durch die Beurteilung der Arbeitsbedingungen feststellen, ob die Beschäftigten Gefährdungen beim Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten ausgesetzt sind oder ausgesetzt sein können. Solche Gefährdungen für die Sicherheit und die Gesundheit sind möglichst zu vermeiden und verbleibende Gefährdungen möglichst gering zu halten. Nachdem die Gefährdungen arbeitsplatz- und tätigkeitsbezogen beurteilt wurden, sind geeignete Schutzmaßnahmen zu ermitteln und festzulegen.

Die ArbStättV macht detaillierte Angaben und Vorgaben, was beim Einrichten und Betreiben von Fluchtwegen und Notausgängen zu beachten und konkret umzusetzen ist. Die Ursache, die eine Flucht oder Evakuierung provoziert, ist nicht weiter beschrieben. Wichtig ist, dass beim Auftreten von Gefahren das betriebliche festgelegte Konzept funktioniert. Der Arbeitgeber ist dafür verantwortlich, Vorkehrungen zu treffen, damit die Beschäftigten sich bei Gefahr unverzüglich in Sicherheit bringen und schnell gerettet werden können.

Die ArbStättV geht im Unterschied zum Baurecht von einem Prinzip aus, das grundsätzlich die eigenständige Entfluchtung des Gebäudes vorsieht. Das ist weitgehend möglich, wenn der Anteil der gebäudekundigen Betriebsangehörigen überwiegt, geschulte Brandschutzbeauftragte und –helfer ihren Aufgaben nachkommen, die Beschäftigten unterwiesen sind und die Evakuierungen geprobt wurden. Aus diesem Grunde verwendet die ArbStättV den Begriff der Fluchtwege.

Das Baurecht, in dem u. a. Brandschutzvorschriften festgeschrieben sind, nutzt den Terminus der Rettungswege. Denn bei der Nutzung öffentlicher Gebäude ist mit einem höheren Anteil von Kunden und Besuchern zu rechnen, denen das Gebäude und seine Struktur und Gestaltung nicht so vertraut sind. Hier geht es zusätzlich darum, Personen aus der Gefahrenzone zu retten.

Verkehrswege, Fluchtwege, Notausgänge

Fluchtwege und Notausgänge müssen auf möglichst kurzem Wege ins Freie führen. Ist dies aufgrund der Gegebenheiten nicht möglich, muss ein gesicherter Bereich, z. B. in einem benachbarten Brandabschnitt, erreicht werden können. Der erste Fluchtweg verläuft über die für die Flucht erforderlichen Verkehrswege und Türen, über die nach dem Bauordnungsrecht notwendigen Flure und Treppenräume und über die Notausgänge.

Der zweite Fluchtweg führt über einen zweiten Notausgang direkt ins Freie oder in einen gesicherten Bereich. Der zweite Notausgang kann als Notausstieg ausgebildet sein.

Ob ein zweiter Fluchtweg erforderlich ist, muss in der Gefährdungsbeurteilung geprüft werden. Hier kommt es auf die spezifischen Verhältnisse der Arbeitsstätte an, z. B. auf das Vorliegen erhöhter Brandgefahr oder einer hohen Anzahl von Personen, die den Fluchtweg nutzen müssen. Beispiele für das Erfordernis eines zweiten Fluchtweges sind Produktions- oder Lagerräume mit einer Fläche von mehr als 200 m2 oder Geschosse mit einer Grundfläche von mehr als 1.600 m2.

Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass Fluchtwege, Notausgänge und Notausstiege ständig freigehalten sind, damit sie jederzeit wie vorgesehen benutzt werden können.

Notausgänge und Notausstiege sind von außen zu kennzeichnen und ggf. durch zusätzliche Maßnahmen freizuhalten, um ein Zustellen oder Zuparken zu verhindern.

Länge von Fluchtwegen
Die Gestaltung der Fluchtwege ist wesentlich beeinflusst durch die Nutzung der Arbeitsstätte und die vorkommenden Gefährdungen. Für verschiedene Raumnutzungen sind maximal zulässige Fluchtweglängen vorgegeben, z. B.:

  • max. 35 m für Räume ohne oder mit normaler Brandgefährdung
  • max. 25 m für Räume mit erhöhter Brandgefährdung ohne selbsttätige Feuerlöscheinrichtungen
  • max. 20 m für giftstoffgefährdete Räume
  • max. 20 m für explosionsgefährdete Räume

Die Fluchtweglänge wird in Luftlinie gemessen, beginnend am entferntesten Aufenthaltsort und endend am Notausgang. Der tatsächliche Laufweg ist im Regelfall, bedingt durch die Raumgeometrie, Einbauten und Inventar, länger, darf aber das 1,5-fache der Fluchtweglänge nicht überschreiten.

Breite von Fluchtwegen
Die Mindestbreite von Fluchtwegen ist in Abhängigkeit von der höchstmöglichen Anzahl der Personen, die im Bedarfsfall den Fluchtweg benutzen müssen, vorzusehen. Da die Breite in einem fertigen Gebäude nachträglich kaum angepasst werden kann, ist die zulässige Belegung der Räume, auch unter Berücksichtigung von Besuchern, Gästen  und Publikum, so zu begrenzen, wie es die Fluchtwegbreite hergibt. Dies ist in der Gefährdungsbeurteilung festzulegen.

Der Fluchtweg darf in seiner Breite nicht durch Einbauten oder Einrichtungen wie Möbel, Pflanzen oder abgestellte Gegenstände reduziert werden. Die Mindestbreite muss vollständig zur Verfügung stehen. Lediglich an Türen darf sie höchstens 0,15 m schmaler ausfallen. Der Wert von 0,80 m für Einzugsgebiete bis 5 Personen darf aber in keinem Fall unterschritten werden.

Türen

Türen im Verlauf von Fluchtwegen oder Notausgängen müssen sich von innen ohne weitere Hilfsmittel jederzeit leicht öffnen lassen, solange sich Beschäftigte in der Arbeitsstätte befinden.

Manuell betätigte Türen in Notausgängen, also Türen, die direkt ins Freie oder in einen gesicherten Bereich führen, müssen in Fluchtrichtung, nach außen, aufschlagen.

Die Aufschlagrichtung anderer Türen im Verlauf von Fluchtwegen muss nicht zwingend nach außen sein. Hier ist in der Gefährdungsbeurteilung abzuwägen, was durchzuführen ist – unter Berücksichtigung der örtlichen und betrieblichen Verhältnisse, insbesondere der möglichen Gefahrenlage, der höchstmöglichen Anzahl der Personen, die gleichzeitig einen Fluchtweg benutzen müssen sowie des Personenkreises,  der auf die Benutzbarkeit der Türen angewiesen ist.

Sicherheitskennzeichnung

Fluchtwege und Notausgänge sowie Türen im Verlauf von Fluchtwegen oder Notausgängen müssen klar erkennbar und dauerhaft gekennzeichnet sein.

Die Kennzeichnung muss den Vorgaben der ASR A1.3 „Sicherheits- und Gesundheitsschutzkennzeichnung“ entsprechen, an gut sichtbaren Stellen im Verlauf des Fluchtwegs, innerhalb der Erkennungsweite angebracht sein und die Richtung des Fluchtwegs anzeigen.

Sicherheitsleitsysteme sind vorzusehen, wenn örtlich oder betrieblich bedingt eine erhöhte Gefährdung vorliegt, z. B. bei Vorhandensein großer zusammenhängender oder mehrgeschossiger Gebäudekomplexe, wenn mit vielen ortsunkundigen Personen oder Personen mit eingeschränkter Mobilität zu rechnen ist.

Sicherheitsbeleuchtung

Fluchtwege und Notausgänge sind mit einer Sicherheitsbeleuchtung auszurüsten, wenn bei Ausfall der allgemeinen Beleuchtung das gefahrlose Verlassen der Arbeitsstätte nicht gewährleistet ist.

Anzahl der Personen im Einzugsgebiet Lichte Breite (m)
bis 5 0,875
bis 20 1,00
bis 200 1,20
bis 300 1,80
bis 400 2,40

 

Das kann der Fall sein, wenn

  • viele Personen in der Arbeitsstätte tätig sind,
  • mit ortsunkundigen Personen zu rechnen ist,
  • viele Geschosse vorhanden sind,
  • Bereiche mit erhöhter Gefährdung oder unübersichtlicher Fluchtwegführung existieren,
  • große Räume durchquert werden müssen (z. B. Hallen, Großraumbüros oder Verkaufsgeschäfte) oder
  • Räume ohne Tageslichtbeleuchtung vorhanden sind, z. B. im Keller.

Flucht- und Rettungsplan

Ein Flucht- und Rettungsplan ist für die Bereiche der Arbeitsstätte aufzustellen, in denen die Lage, die Ausdehnung oder die Art der Benutzung dies erfordert. Der Plan ist an geeigneten Stellen auszulegen oder auszuhängen. Nach diesem Plan sind in angemessenen Zeitabständen Übungen, z. B. Evakuierungsübungen, durchzuführen.

Unterweisung

Die Beschäftigten müssen anhand der Gefährdungsbeurteilung Informationen in verständlicher Form und Sprache über das bestimmungsgemäße Betreiben der Arbeitsstätte und über alle gesundheits- und sicherheitsrelevanten Fragen im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit erhalten. Dazu zählen auch Informationen über die Nutzung der Fluchtwege und Notausgänge. Anhand der Informationen ist eine Unterweisung durchzuführen. Sie muss vor Aufnahme der Tätigkeit stattfinden und mindestens jährlich wiederholt werden.

Anforderungen an die barrierefreie Gestaltung

Bei Festlegung der Anordnung und Abmessungen der Fluchtwege und Notausgänge sind die besonderen Anforderungen von Personen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Dazu zählen z. B. Anforderungen, die sich aus der Art der Behinderung ergeben. Das betrifft die wirksame Alarmierung von Beschäftigten mit Seh- oder Hörbehinderungen unter Berücksichtigung des Zwei-Sinne-Prinzips sowie die geeignete Gestaltung von Flucht- und Rettungsplänen für Beschäftigte mit Sehbehinderung. Rollstuhlbenutzer und Kleinwüchsige müssen die Aussagen der Flucht- und Rettungspläne aus ihrer Augenhöhe erkennen können.

Da das Prinzip der Barrierefreiheit (Zugänglichkeit und Nutzbarkeit in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernisse und grundsätzlich ohne fremde Hilfe) für Personen mit Behinderungen nicht durchgängig anwendbar ist, sind gemäß ASR V3a.2 alternative organisatorische Maßnahmen zulässig. So können eingewiesene Personen in Form einer Patenschaft Aufgaben übernehmen, wie Informierung über bestehende oder sich abzeichnende Gefahren, sie können Personen mit Behinderungen begleiten oder ihnen behilflich sein. Hierzu sind gezielte Abstimmungen erforderlich und für den Ernstfall sicherzustellen.

Die meisten Anforderungen an eine barrierefreie Fluchtweggestaltung sind dann relevant, wenn Personen mit Behinderung, die eine Gehhilfe oder einen Rollstuhl benutzen, betroffen sind. Hier geht es v. a. darum, dass die Wegbreiten und lichten Türbreiten ausreichend groß sind, um Personen mit Rollstuhl oder Gehhilfe durchzulassen.

So dürfen Fluchtwege ohne Personen-Gegenverkehr nicht schmaler als 1 m sein. Einengungen durch Einbauten, Einrichtungen oder Türen dürfen die Mindestbreite des Fluchtwegs nicht unter 0,90 m reduzieren. Ist in der vorgegebenen Fluchtrichtung eine Begegnung mit anderen Personen mit Behinderung möglich, muss die Mindestbreite der Fluchtwege sogar 1,50 m betragen. Vor Türen und Toren im Fluchtweg sind freie Bewegungsflächen und eine seitliche Anfahrbarkeit zu gewährleisten. Die Bewegungsfläche beträgt 1,50 x 1,50 m im Bereich der aufschlagenden Tür und 1,20 x 1,50 m an der gegenüberliegenden Türseite.

Für Beschäftigte, die einen Rollstuhl benutzen und deren Hand-/Arm-Motorik eingeschränkt ist, dürfen Bedienelemente von Türen und Entriegelungseinrichtungen maximal in einer Höhe von 0,85 m angebracht sein. Die aufzubringende Kraft bei der Bedienung darf nicht höher als 25 N oder 2,5 Nm sein.

Mängel an Fluchtwegen

Auch wenn Fluchtwegen und Notausgängen im Notfall eine existentielle Bedeutung zukommen kann, sind die betrieblichen Gepflogenheiten nicht immer so ausgerichtet, dass eine volle Funktionsfähigkeit sichergestellt ist. Typische Mängel in der Praxis sind:

  • Fluren und Treppenhäuser werden als Aufenthalts- oder Wartebereiche genutzt, zu Lagerzwecken (Ware, Regale, technische Geräte) oder als Ort für Ausstellung, Aufstellung und Dekoration. Dadurch werden Fluchtwege eingeengt, verstellt, aber auch unnötige Brandlasten geschaffen,
  • Notausgangstüren sind versperrt, lassen sich nur schwer öffnen oder sind gar abgeschlossen.
  • Brandschutztüren werden mit einem Holzkeil offen gehalten.
  • Stolperstellen und schadhafte Fußbodenbeläge gefährden die sichere Benutzung.
  • Fluchtwege sind unzureichend, lückenhaft oder nicht gekennzeichnet.
  • Evakuierungsübungen werden nicht durchgeführt.

Die sorgfältige und verantwortungsvolle Umsetzung der Arbeitsschutzmaßnahmen rettet daher im Ernstfall Menschenleben.

Fachgutachten Fluchtwege und Ausblick

Die Maßangaben für die Fluchtwegbreiten stammen aus alten Arbeitsstättenrichtlinien. Das Baurecht beschreibt teils anderslautende Anforderungen, z. B. in der Muster-Schulbaurichtlinie.

Um hier Unstimmigkeiten abzubauen und Maße nach dem Stand der Technik zu etablieren, beauftragte die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ein Fachgutachten, in dem untersucht wurde, inwieweit die Breite von Wegen, Treppen, Türen und Einengungen die Entfluchtungszeiten beeinflussen und wie eine zeitlich versetzte Nutzung der Fluchtwege bei mehrgeschossigen Gebäuden zu bewerten ist. Im Ergebnis stellten die Gutachter fest, dass kurze Einengungen auf horizontalen Fluchtwegen kaum Auswirkungen auf die Gesamtentfluchtungszeit und Passagezeit einzelner Personen haben. Deutlichen Einfluss haben hingegen längere Einengungen z. B. in Form von Möbeln in Gängen. Zwischen Fluchtwegbreite und Gesamtentfluchtungszeit wurde ein steter linearer Zusammenhang gefunden.

Bei Fluchtwegen aus horizontalen/vertikalen Elementen (Treppen), die sehr häufig anzutreffen sind, sind die Einengungen entlang des Ganges und an Türen, die in den Treppenraum münden, vernachlässigbar. Die eigentliche Flussreduktion entsteht auf der Treppe.

Wichtige Erkenntnisse wurden bei der Entfluchtung mehrgeschossiger Gebäude gewonnen. Hier kommt es ab einer bestimmten Personenbelegung der Etagen in den Treppenräumen zu einer Verdichtung des Personenstroms, die sich auf die Geschwindigkeit sowie den Zugang aus den Ebenen in den Treppenraum auswirkt.

Der Ausschuss für Arbeitsstätten hat die Erkenntnisse des Fachgutachtens in die Überarbeitung der ASR A2.3 einfließen lassen. Es kann damit gerechnet werden, dass in 2021 eine überarbeitete ASR herausgegeben wird.

Der Autor

Dipl.-Ing. Andreas Voigt ist Dip.-Ing. für Landeskultur und Umweltschutz und hat mehrere Jahre als Bauleiter im Tiefbau, Erdbau und Wasserbau gearbeitet. Dann wechselte er in die Berliner Arbeitsschutzverwaltung, absolvierte die Laufbahnausbildung zum Arbeitsschutzbeamten und ist auf ministerieller Ebene als Referent u. a. für Grundsatzangelegenheiten des Arbeitsschutzes, das Arbeitsstättenrecht, die Baustellensicherheit, das Sprengstoffrecht usw. tätig. Er ist seit mehreren Jahren aktiv als stellv. Mitglied des Ausschusses für Arbeitsstätten (ASTA), Leiter der Projektgruppe „Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten“, Mitglied in weiteren Projektgruppen des ASTA und anderer Gremien.

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